AUTOR: Fabrice Colin
Fabrice Colin, geboren 1972 bei Paris, ist in Frankreich der talentierteste Fantasy-Autor seiner Generation. Er hat bereits zahlreiche phantastische Romane, Drehbücher und Comics geschrieben und wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. Der Autor lebt und arbeitet in Paris.
Mary Wickford und das Erbe der Hexen
Als die junge Waise Mary Wickford zum ersten Mal einem Drachen begegnet, spürt sie, dass in ihrem Leben nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Niemals hätte sie jedoch erwartet, dass eine geheimnisvolle Gabe in ihr schlummert, die das Gefüge der ganzen Welt ins Wanken bringen wird. Fabrice Colin hat eine faszinierende Welt voller zauberhafter Überraschungen geschaffen. Wer Christoph Marzis "Lycidas" mochte, wird "Mary Wickford" lieben!
Entdecken Sie das Geheimnis einer verwunschenen Welt!
Die Welt ist groß, Mary. Wir können nicht alles wissen." Diese Worte hatte er auf seinem Sterbebett geflüstert; er war kaum zu verstehen. Draußen erwarteten mich die Schiffe des Imperiums, und wieder einmal sah es so aus, als stünde mein gesamtes Leben auf der Kippe. Ich war erschöpft und verschreckt und wusste nicht einmal, was er wohl mit "Welt" meinte.
Heute Abend jedoch, an diesem Abend, während ich beim Schein eines Talglichtes mit der einen Hand in Winslows gewaltigem Werk America principus blättere und mit der anderen die zitternde Feder halte, um diese Zeilen zu schreiben, erinnere ich mich der Worte meines Pastors mit einer neuen und schmerzlichen Klarheit.
Ich denke an das Jahr zurück, in dem alles begann, lange vor meiner Geburt. Ich sinne darüber nach, wie sich die Ereignisse überstürzten und gleich Motiven einer gewaltigen Sinfonie ineinander verflochten. Mit einem Mal wird mir klar, dass an dieser Geschichte, sollte sie sich noch einmal abspielen, nicht ein einziges Wort anders wäre. Denn das ist die Art und Weise, wie die Menschen ihren Weg gehen: dem Schicksal und einem so verzweigten Flechtwerk von Ursache und Wirkung unterworfen, dass es ihnen unmöglich ist, zum verborgenen Sinn der Dinge vorzustoßen, solange sie nicht gelebt haben. Und anschließend ...
Dies hier ist keine Lebensbeichte. Es sind auch keine Memoiren, sondern der möglichst getreuliche Bericht einer besonders turbulenten Zeit in meinem Leben. Die Ereignisse spielten sich in einer Epoche ab, die Historiker als "Fall von Gotham" bezeichnen. Es war eine Art Apokalypse, eine Offenbarung, die das Gesicht unserer Hauptstadt für immer veränderte. Oh ja, ich habe den Umsturz miterlebt und dabei eine mehr als aktive Rolle gespielt. Dennoch glaube ich nicht, dass ich der Auslöser war. Ich bin nur das letzte Glied in einer langen, aus Liebe und Hass entstandenen Kette, die bis in das Dunkel der Vorzeit zurückreicht, und ich weiß von einem Menschen, der in diesem Augenblick gleich mir seine Erlebnisse niederschreibt und dessen Verantwortung an dem, was geschehen ist, der meinen zumindest gleichkommt.
Ich behaupte nicht, dass alles wahr ist. Zwar habe ich mir Mühe gegeben, mir alles so genau wie möglich ins Gedächtnis zurückzurufen, doch so manches Mal lässt uns die Erinnerung im Stich oder die Sicht auf die Dinge verändert sich. Bei allem jedoch, was ich geschrieben habe, sah ich mich vor, immer gerecht zu bleiben.
Ich weiß nicht, in welchem Zeitalter und unter welchen Bedingungen Ihr diese Zeilen lesen werdet. Es gibt Dinge, die schwer zu erklären sind, wenn man diese bewegte Epoche nicht selbst miterlebt hat. Daher habe ich an bestimmten Stellen Auszüge aus Büchern und Zeitungen eingefügt. Das Ganze ist nicht unbedingt als Roman im herkömmlichen Sinne anzusehen, denn alles, was ich niedergeschrieben habe, ist tatsächlich geschehen. Trotzdem müsst Ihr mir nicht unbedingt glauben, denn letztendlich spielt es nämlich keine Rolle. Wichtig ist nur, dass meine Geschichte wirklich geschehen ist, und dass Ihr sie lest.
Schließt nun also die Türen, lehnt Euch in einen bequemen Sessel zurück und erklärt allen anderen, dass Ihr nicht zu Hause seid. Ich werde Euch in die Ferne entführen - sehr weit fort.
Denkt Euch, wir befinden uns im Jahr des Herrn anno 1670. Auf der anderen Seite des Ozeans wird gerade der ehrwürdige und geschätzte Galileo Galilei, der sein hundertsechstes Wiegenfest und gleichzeitig den dreißigsten Jahrestag seines Exils feiert, von König Ludwig XIV. auf dem Vorplatz der Kathedrale Notre-Dame mit großem Pomp geehrt. Es ist Morgen, und die Franzosen sind glücklich. Sie ahnen noch nichts.
In weniger als einer Stunde wird man den Premierminister des englischen Königs Karl II., den Dichter John Milton, ermordet auffinden, rings um ihn verstreut die blutbefleckten Seiten des Manuskripts seines epischen Gedichts Das verlorene Paradies. Wieder einmal wird es Krieg geben. Man spürt es. Man fürchtet sich davor. In der aufgewühlten Welt kursieren Gerüchte, dass die Artilleristen schon ihre Kanonen polieren und Generäle zerknitterte Schlachtpläne glattstreichen, dass sich Truppen sammeln und man finstere Bündnisse schließt. Noch ist es nur ein Flüstern, doch schon bald wird das Echo der Katastrophe bis ins ferne Amerika hinüberhallen.
Doch heute noch nicht.
Denn hier, in diesem düsteren, vernebelten Tal, wo es seit drei Tagen wahre Sturzbäche regnet, Flüsse über die Ufer treten und Schlammlawinen von den Bergen abgehen, entlädt sich ein so heftiges Gewitter, dass man nichts anderes mehr hört. Den Menschen ist es gleich, was im fernen Europa vor sich geht; sie senken die Köpfe, löffeln ihre Suppe und warten zitternd darauf, dass der zornige Himmel sich beruhigt.
Es ist fast drei Uhr morgens und wir befinden uns im Gasthof Zum Schwarzen Bären in den Adirondack-Bergen. Im Kamin knistern die Scheite. Alle sind in den Gastraum hinuntergekommen. Wie könnte man in einer solchen Nacht auch Schlaf finden? Um die Zeit totzuschlagen, wird gegessen, über wunderbare Jagdpartien und noch unerforschte Wälder geredet; man erörtert die kurz zuvor unterzeichneten Handelsverträge mit den Irokesen im Norden und erzählt sich lachend den neuesten Klatsch aus Gotham.
Rings um den großen Tisch hat sich eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft versammelt: zwei Kartografen, ein Söldner, drei Trapper und eine Gruppe holländischer Pelzhändler. Nur ein junger Mann im langen Mantel sitzt ein wenig abseits, das Gesicht unter einer Kapuze verborgen. Niemand spricht ihn an. Nachdem der einäugige Ben seine Töpfe gesäubert hat, serviert er den Gästen Glühwein in großen Krügen. Seine Frau Lucy zwängt sich mit einem Tablett zwischen den Tischen hindurch. Die Holländer machen zwar Lärm und poltern herum; trotzdem freut sich Ben, dass sie da sind. In den fünf Jahren, in denen er den Gasthof betreibt, hat er noch nie ein solches Wetter erlebt.
Er schaut aus dem Fenster. Der nahe Wald verbirgt sich hinter einem dichten Regenvorhang. In regelmäßigen Abständen zucken Blitze über den Himmel und Donnergrollen hallt durch das Tal.
Früher gab es hier nichts als wilde, wundervolle Natur, den Wind, der in den Bäumen sang, Silberkarpfen, die dazu sprangen ... und ein paar Indianer. Ben ist sich nicht ganz sicher, ob die Welt seither eine bessere geworden ist.
Mary Wickford und das Erbe der Hexen
Als die junge Waise Mary Wickford zum ersten Mal einem Drachen begegnet, spürt sie, dass in ihrem Leben nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Niemals hätte sie jedoch erwartet, dass eine geheimnisvolle Gabe in ihr schlummert, die das Gefüge der ganzen Welt ins Wanken bringen wird. Fabrice Colin hat eine faszinierende Welt voller zauberhafter Überraschungen geschaffen. Wer Christoph Marzis "Lycidas" mochte, wird "Mary Wickford" lieben!
Entdecken Sie das Geheimnis einer verwunschenen Welt!
Die Welt ist groß, Mary. Wir können nicht alles wissen." Diese Worte hatte er auf seinem Sterbebett geflüstert; er war kaum zu verstehen. Draußen erwarteten mich die Schiffe des Imperiums, und wieder einmal sah es so aus, als stünde mein gesamtes Leben auf der Kippe. Ich war erschöpft und verschreckt und wusste nicht einmal, was er wohl mit "Welt" meinte.
Heute Abend jedoch, an diesem Abend, während ich beim Schein eines Talglichtes mit der einen Hand in Winslows gewaltigem Werk America principus blättere und mit der anderen die zitternde Feder halte, um diese Zeilen zu schreiben, erinnere ich mich der Worte meines Pastors mit einer neuen und schmerzlichen Klarheit.
Ich denke an das Jahr zurück, in dem alles begann, lange vor meiner Geburt. Ich sinne darüber nach, wie sich die Ereignisse überstürzten und gleich Motiven einer gewaltigen Sinfonie ineinander verflochten. Mit einem Mal wird mir klar, dass an dieser Geschichte, sollte sie sich noch einmal abspielen, nicht ein einziges Wort anders wäre. Denn das ist die Art und Weise, wie die Menschen ihren Weg gehen: dem Schicksal und einem so verzweigten Flechtwerk von Ursache und Wirkung unterworfen, dass es ihnen unmöglich ist, zum verborgenen Sinn der Dinge vorzustoßen, solange sie nicht gelebt haben. Und anschließend ...
Dies hier ist keine Lebensbeichte. Es sind auch keine Memoiren, sondern der möglichst getreuliche Bericht einer besonders turbulenten Zeit in meinem Leben. Die Ereignisse spielten sich in einer Epoche ab, die Historiker als "Fall von Gotham" bezeichnen. Es war eine Art Apokalypse, eine Offenbarung, die das Gesicht unserer Hauptstadt für immer veränderte. Oh ja, ich habe den Umsturz miterlebt und dabei eine mehr als aktive Rolle gespielt. Dennoch glaube ich nicht, dass ich der Auslöser war. Ich bin nur das letzte Glied in einer langen, aus Liebe und Hass entstandenen Kette, die bis in das Dunkel der Vorzeit zurückreicht, und ich weiß von einem Menschen, der in diesem Augenblick gleich mir seine Erlebnisse niederschreibt und dessen Verantwortung an dem, was geschehen ist, der meinen zumindest gleichkommt.
Ich behaupte nicht, dass alles wahr ist. Zwar habe ich mir Mühe gegeben, mir alles so genau wie möglich ins Gedächtnis zurückzurufen, doch so manches Mal lässt uns die Erinnerung im Stich oder die Sicht auf die Dinge verändert sich. Bei allem jedoch, was ich geschrieben habe, sah ich mich vor, immer gerecht zu bleiben.
Ich weiß nicht, in welchem Zeitalter und unter welchen Bedingungen Ihr diese Zeilen lesen werdet. Es gibt Dinge, die schwer zu erklären sind, wenn man diese bewegte Epoche nicht selbst miterlebt hat. Daher habe ich an bestimmten Stellen Auszüge aus Büchern und Zeitungen eingefügt. Das Ganze ist nicht unbedingt als Roman im herkömmlichen Sinne anzusehen, denn alles, was ich niedergeschrieben habe, ist tatsächlich geschehen. Trotzdem müsst Ihr mir nicht unbedingt glauben, denn letztendlich spielt es nämlich keine Rolle. Wichtig ist nur, dass meine Geschichte wirklich geschehen ist, und dass Ihr sie lest.
Schließt nun also die Türen, lehnt Euch in einen bequemen Sessel zurück und erklärt allen anderen, dass Ihr nicht zu Hause seid. Ich werde Euch in die Ferne entführen - sehr weit fort.
Denkt Euch, wir befinden uns im Jahr des Herrn anno 1670. Auf der anderen Seite des Ozeans wird gerade der ehrwürdige und geschätzte Galileo Galilei, der sein hundertsechstes Wiegenfest und gleichzeitig den dreißigsten Jahrestag seines Exils feiert, von König Ludwig XIV. auf dem Vorplatz der Kathedrale Notre-Dame mit großem Pomp geehrt. Es ist Morgen, und die Franzosen sind glücklich. Sie ahnen noch nichts.
In weniger als einer Stunde wird man den Premierminister des englischen Königs Karl II., den Dichter John Milton, ermordet auffinden, rings um ihn verstreut die blutbefleckten Seiten des Manuskripts seines epischen Gedichts Das verlorene Paradies. Wieder einmal wird es Krieg geben. Man spürt es. Man fürcht